Internationales Symposium /

International Symposium

Vorhoelzer Forum der Technischen Universität München

Arcisstrasse 21, 5. Obergeschoss


Mittwoch, 18. September 2013

Wednesday, September 18, 2013

Füllung / Infill

Arno Brandlhuber, Brandlhuber +  Emde, Schneider, Berlin

Arno Brandlhuber im Gespräch mit Florian Heilmeyer und Muck Petzet:


»Wir sind in Krampnitz auf ein völlig anderes ökonomisches Modell gestoßen: Der Mehrwert entsteht nicht durch das Neuschaffen, sondern dadurch, dass man weniger tut.«


Muck Petzet: Wir haben gemeinsam die Antivilla in Krampnitz besucht, an der Du gerade arbeitest. Wie würdest Du die beiden Gebäude, die dort stehen und die Ihr im Rahmen dieses Projekts erhalten wollt, beschreiben?

    Arno Brandlhuber: Es sind zwei sehr schlichte Gebäude, in denen zu DDR-Zeiten der VEB Obertrikotagen Ernst Lück saß. Das eine Haus wurde Ende der 1950er-Jahre errichtet, das andere von einer Kolonne Baulehrlingen um 1980. Es sind zunächst keine besonders ansprechenden Gebäude, nein, insbesondere das Gebäude aus den 1980er-Jahren, die künftige Antivilla, ist ausnehmend hässlich, ein unproportional vergrößertes Einfamilienhaus, ein gebauter Maßstabsfehler, fast ohne bemerkenswerte Eigenschaften. Erst bei genauerem Hinsehen zeigen sich gewisse bemerkenswerte Eigenheiten, beispielsweise wurden unnötig viele kleine Fenster gebaut, alle gleich groß, aber mit unterschiedlichen handwerklichen Techniken: Sturz, Bogen und so weiter. Es waren eben Auszubildende, die hier gebaut haben.

    MP: Warum erhaltet Ihr diese hässlichen Gebäude?

    AB: Zunächst ist es schlicht günstiger, das zu nutzen, was schon da ist, statt es neu zu bauen. Die angenommenen Abrisskosten für die beiden Gebäude waren ja vom Preis für das Grundstück bereits abgezogen. Der Erhalt hat sich für uns sozusagen dreifach gelohnt: Wir haben uns die Kosten für den Abriss gespart, das Grundstück war trotzdem günstiger, und wir müssen keinen neuen Rohbau mehr errichten.

Zweitens, und das war uns mindestens genauso wichtig, gab es hier aber noch eine Chance, durch den Erhalt ein deutliches Mehr an Fläche zu erreichen, denn die Fläche der beiden bestehenden Gebäude ist viel größer als das, was man hier nach dem Abriss hätte neu bauen dürfen. Die baurechtlich erlaubten drei neuen Häuschen hätten zusammen nur 250 Quadratmeter haben dürfen. Die Gebäude, die dort stehen, haben hingegen 250 Quadratmeter pro Geschoss. Der Erhalt des Bestands liefert uns also eine »Mehrfläche« von etwa 750 Quadratmetern.

Drittes gab es noch einen emotionalen Faktor. Dass sich die beiden Gebäude über Jahre hinweg in ihrer offensichtlichen Ungestaltung hatten halten können, dass sie trotz allem nicht schon längst abgerissen worden waren, hat mich schon berührt. Es sind Überlebende. Diese emotionale Energie wäre mit einem Abriss ebenso verloren gewesen wie die gesamte Herstellungsenergie.

    Florian Heilmeyer: Welches der genannten Argumente war das entscheidende? Hypothetisch gefragt: Wenn es möglich gewesen wäre, in genau derselben Kubatur und mit demselben Volumen neu zu bauen, hättet Ihr die beiden Gebäude dann trotzdem erhalten?

    AB: Ja, wir hätten auf jeden Fall mit dem Vorhandenen gearbeitet. 40 Prozent der Kosten eines Neubaus gehen in den Rohbau. Also ist es doch sinnlos, etwas abzureißen, was genauso gut als Rohbau weitergenutzt werden kann. Natürlich muss genau geprüft werden, was der Bestand noch leisten kann. Das ist eine interessante Umkehrung der Fragestellung: Plötzlich geht es weniger darum, was ich will, sondern darum, was das Gebäude kann.

    FH: Welche Fähigkeiten hatte also der Bestand in diesem Fall?

    AB: In Krampnitz haben wir ein Gebäude mit winzigen oder fehlenden Fenstern, tragenden Innenwänden und einem asbesthaltigen Dach aus Welleternit. Das wirft in Bezug auf die Umnutzung bestimmte Fragen auf.

    FH: Das klingt vor allem nach guten Gründen für einen Abriss. Was macht Ihr damit?

    AB: Das Dach wird entsorgt, wir ersetzen es durch eine leicht geneigte Betonplatte, die mehrere Aufgaben übernimmt: Wir verwenden wasserundurchlässigen Beton, also funktioniert sie als Dachhaut ohne zusätzliches Material. Sie ist darüber hinaus begehbar, eine zusätzliche Fläche. Außerdem werden die tragenden Innenwände zugunsten eines freien Grundrisses überflüssig, und die Platte überspannt als Tragwerk auch noch die Außenwände. Wir brauchen also auch die Außenmauern nicht mehr vollständig, bis zu zwei Drittel der Wände können wir entfernen. Wir werden uns Abriss- und Presslufthämmer besorgen und Freunde zu einer Abrissparty einladen. Wo wollen wir Löcher in den Wänden, wo wollen wir hinausschauen? Auf den Wald, auf den See? Hau raus! Die groben Löcher, die dabei entstehen, werden anschließend mit Glasscheiben von innen beklebt. Die Antivilla ist fertig. Eine einzelne Maßnahme, die neue Dachscheibe, macht all das möglich.

    MP: Und das andere Gebäude?

    AB: Das bringt viel mehr mit. Ein funktionierendes Dach, Stützen statt tragender Wände, große Fensteröffnungen unten, aber auch hier winzige Fenster im oberen Geschoss, eine einzige Treppe. Alle Qualitäten sind vorhanden. Sie sind allerdings nicht immer am richtigen Platz. Daraus entwickelten wir die Strategie der direkten Selbstermächtigung. Wir haben die beiden zukünftigen Nutzer gebeten, diese Qualitäten zu verschieben: Die großen Fenster aus dem Erdgeschoss können ins Obergeschoss kopiert, die vorhandene Treppe darf verschoben werden. Aus diesen Vorgaben entstehen interessante Fragen: Wo braucht Ihr eine Treppe, wo ein großes Fenster? Tut es hier an dieser Stelle nicht auch das kleine, vorhandene Fenster? Alle Veränderungen sind »Copy-and-paste« im Bestand – die vorhandenen Elemente sind der Baukasten, es dürfen keine neuen hinzugefügt werden.

    FH: Das klingt so, als ob der Erhalt der beiden hässlichen Gebäude letztlich nicht nur wirtschaftlich und räumlich Sinn, sondern auch noch Spaß machen würde.

    AB: Es kommt sogar noch etwas hinzu, was ich essenziell finde. Die Frage nach dem Zuviel: Dies ist eine typische Lage für kleine Wochenendhäuschen. Fürs Wochenende reichen 70 Quadratmeter ja völlig aus. Unser Umbau schafft also zwei Häuser, die 430 Quadratmeter zu groß sind. Das wirft Fragen nach den Folgekosten auf, vor allem Dämmung und Heizung. Bei der Antivilla antworten wir, indem wir verschiedene Klimazonen einrichten. Wir heizen nicht gleichmäßig, sondern es gibt einen heißen Kern, die Sauna, als zentrale Wärmequelle. Dann eine warme Zone: Bad, Dusche, Küche und weitere klimaflexible Zonen. Diese bilden wir mit Vorhängen. Wie bei einer Zwiebel liegen sie um den Kern, mit den Vorhängen können sie immer wieder justiert werden. Dafür sparen wir uns jegliche Wärmedämmung: Im Sommer wird man alles problemlos nutzen können, in Frühjahr und Herbst beinahe alles, und im Winter muss man sich für eine kleinere Fläche entscheiden. Auf der restlichen Fläche sollte man einen dicken Pulli anziehen. Übrigens bleiben wir innerhalb der gesetzlichen Vorgaben, wir legen sie nur anders aus: Wir rüsten nicht das Gebäude auf, sondern reduzieren im Winter die Fläche, definieren unterschiedliche Wärme- und Nutzungszonen.

    FH: Was aber macht Ihr mit dem Raum, den Ihr nicht braucht?

    AB: Das wissen wir noch nicht. Aber genau das ist ja das Faszinierende, dieses Zuviel ermöglicht neue Fragen nach Nutzung und Zugänglichkeit. Durch den Erhalt des Bestehenden ist ein »Mehr« entstanden, das sonst finanziell gar nicht zur Debatte gestanden hätte. Auf einmal entsteht damit eine unbestimmte Großzügigkeit: Wir haben zu viel Platz. Wer will den nutzen? Für was? Es ist ein Abfallprodukt, das sich nur aus dem Umgang mit der Ressource Raum ergeben hat und das uns gar nichts kostet.

    FH: Ein »Luxus der Leere«. Das passt ja ganz gut zu Brandenburg.

    AB: Normalerweise passiert so etwas der Architektur aber nicht. Da wird nie »zu viel« produziert, sondern es wird sehr genau kalkuliert. In diesem Fall sind wir aber auf ein völlig anderes ökonomisches Modell gestoßen: Der Mehrwert entsteht nicht durch das Neuschaffen, sondern dadurch, dass man weniger tut. Statt in mehr Wärmedämmung investieren wir in mehr Raum.

    MP: Mit diesen Klimazonen stellt Ihr gängige Vorstellungen von Standards infrage. Ihr schafft eben kein vollständig gedämmtes Haus, in dem alle Räume die gleichen klimatischen Bedingungen haben, sondern Ihr schafft eigentlich extreme Unterschiede. Der Bewohner muss dann herausfinden, wann er was braucht.

    AB: Ja. Warum sollte man immer alles mit den gleichen Standards ausrüsten? Damit sind enorme Kosten verbunden und in der Folge der Zwang zur Refinanzierung durch durchgängige Nutzung, Zweckbestimmung. Warum können wir nicht sagen: Nein, für verschiedene Nutzungen und verschiedene Nutzer gibt es natürlich verschiedene Standards, und die können gut nebeneinander existieren.

    MP: Denkst Du, dass das auch auf einen anderen Maßstab übertragbar wäre? Oder handelt es sich hier nicht eher um einen ganz speziellen Einzelfall für ein ganz spezielles Publikum? In diesem Fall seid Ihr ja erst einmal selbst Bauherr, und es lässt sich leicht vorstellen, dass auch andere Künstler, Architekten oder Designer an einem solchen Konzept Spaß hätten ...

    AB: Natürlich ist es ideal, wenn Projekte modellhaft neue Möglichkeiten aufzeigen. Ich hoffe sehr, dass wir ab und an Beispiele schaffen, die übertragbar sind. Unsere Projekte denken neu über die Zusammenhänge von Wohnen und Arbeiten nach, wir stellen Gebäudestandards infrage, die viel zu selten hinterfragt werden. Ein Gebäude wie in der Brunnenstraße, das haben wir schnell gemerkt, könnte es in Berlin noch zwanzigmal geben, und es gäbe immer noch genug Interessenten.


Biographie

Studium der Architektur an der Technischen Hochschule Darmstadt und der Accademia del Arte in Florenz. Langjährige Partnerschaft mit Bernd Kniess unter dem Namen b&k+.

Seit 2003 Lehrstuhl für Architektur- und Stadtforschung an der Akademie der Bildenden Künste Nürnberg. Seit 2006 Gründung des Architekturbüros brandlhuber+ Berlin.

Zusammen mit Anna-Catharina Gebbers, Silvan Linden und Christian Posthofen ist Arno Brandlhuber Initiator des Veranstaltungsformats Akademie c/o in Berlin, einem Ableger des gleichnamigen, von Brandlhuber geleiteten Studiengangs in Nürnberg.



brandlhuber.com